Schmerzhafte Neugeburt
Der klatschnasse Fremde liegt plötzlich im Wohnzimmer in Buenos Aires und sprengt mit seinem steten Tropfen die Fassade des Bildes, das Perla von sich aufgebaut hat. Behütete Tochter eines hohen Marineoffiziers, vielversprechende Studentin und verführerische Geliebte, die nichts von sich preisgibt – all das funktioniert nicht mehr ab dem „Moment, als ihr wahres Leben begann“, und sie sich der argentinischen Vergangenheit stellt. Und die beinhaltet 30.000 Menschen, die während der Militärdiktatur der 70er und 80er Jahre vom Regime getötet und rund 500 Babys, die zur Adoption freigegeben wurden.
Nur langsam und widerwillig öffnet sich Perla der Wahrheit, zu der auch die Täter wie ihr Vater gehören, die Entführung, Folter und Mord zu verantworten haben. Wie die 1975 geborene, aus Uruguay stammende Autorin Carolina De Robertis einmal in einem Interview sagte, bleibt angesichts des Schreckens die Fassungslosigkeit darüber, dass es Menschen waren, die zu solchen Taten fähig waren.
Es ist eine schmerzhafte Neugeburt, von der De Robertis mit poetischer Sprache und hohem psychologischen Einfühlungsvermögen erzählt. Kunstvoll lässt sie abwechselnd Perla und den sich erinnernden Verschwundenen zu Wort kommen. Für die junge Frau ist es ein Kampf um Identität zwischen wissen wollen und nicht wissen wollen, zwischen der Liebe zu den Eltern, die sie aufgezogen haben, und der Ungläubigkeit darüber, was sie getan haben. Und ein Kampf gegen das Nichts, das sich auftut, wenn man mit fast zwanzig erfährt, dass sein ganzes Leben auf einer Lüge aufgebaut ist.
Fantasie, Geist, Psychose, Metapher - bis zum Schluss wird das Wesen des tropfenden Gastes nicht aufgelöst. Der magische Realismus, der an die literarische Tradition des südamerikanischen Kontinents anknüpft, hat dabei nichts Aufgesetztes, er hat eine elementare literarische Funktion. Er erlaubt der Autorin, den Verschwunden eine Stimme zu geben. Durch die Erinnerungen des aus dem Meer Zurückgekehrten erfährt der Leser aus erster Hand was geschah, seit „dem Tag als die schwarzen Stiefel kamen“: die Ungewissheit über das Schicksal seiner schwangeren Frau, die Folter und den Moment, als argentinisches Militär den Halbbetäubten gemeinsam mit anderen aus dem Flugzeug ins Meer warfen. Aber noch mehr ist es eine Möglichkeit, zu imaginieren, wie die Ermordeten gedacht, erinnert und gefühlt hätten, wären sie nicht tot. Und so wird ganz konkret, was dem tropfenden Gast außer dem Leben genommen wurde: die Möglichkeit, sein Kind aufwachsen zu sehen.
Dabei handelt das zweite Buch der heute in Kalifornien lebenden Autorin auch von Perlas Liebe zu Gabriel, für die die Ereignisse eine harte Prüfung sind. Perla ist ein Roman, der gefangen nimmt, und dessen Thematik und Charaktere einen nicht loslassen, wenn man den Buchdeckel zugeschlagen hat. Eigentlich ist es sogar so, dass man ihn gleich wieder aufschlagen sollte. Denn erst bei der zweiten Lektüre wird einem klar, wie gut dieser anrührende Roman wirklich ist.
Carolina De Robertis (USA/Uruguay)
Perla. Roman
Perla
Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann
Fischer Krüger, 2013
329 S., 18,99 EUR , 27,50 Sfr
ISBN: 978-3-8105-0853-9