Überall daheim
Die aus Ghana und Nigeria stammende Autorin Taiye Selasi hat einen viel gelobten kosmopolitischem Familienroman geschrieben. In Diese Dinge geschehen nicht einfach so ist die gut ausgebildete zweite Generation einer afrikanischen Einwandererfamilie in den USA auf der Suche nach Identität und Zuhause.
Lange bevor ihr erster Roman fertig war, wurde Taiye Selasi bereits als neuer Stern am Literaturhimmel gehandelt. Keine Geringeren als Salman Rushdie und Toni Morisson traten als Bürgen für ihr literarisches Talent auf, als der britische Penguin-Verlag 2010 auf der Basis von hundert Seiten ihr Erstlingswerk und einen weiteren Roman gleich im Doppelpack kaufte. Bis dahin hatte sie eine Kurzgeschichte geschrieben und 2005 einen Aufsatz veröffentlicht, in dem sie für die modernen, weltweit lebenden Afrikaner des 21. Jahrhunderts den Begriff „Afropoliten“ prägte: „nicht Weltbürger, sondern Weltafrikaner“. Dieses Jahr erscheint der erste Roman der 32-jährigen Autorin mit ghanaisch-nigerianischen Wurzeln in 15 Ländern.
Am Anfang der großartig erzählten Familiensaga steht der Tod des angesehenen Chirurgen Kwaku. Viel zu früh stirbt er mit 57 in seinem Garten in Ghanas Hauptstadt Accra, wo er nach seiner Heimkehr ein Haus gebaut hat. Sein Tod weckt Erinnerungen, denen sich seine erste Frau Fola und seine vier erwachsenen Kinder in den USA plötzlich stellen müssen. Genau wie er sich kurz vor seinem Tod Zeit für die herzzerbrechenden Momente in seinem Leben nahm, die dem Infarkt vorangingen: die Ungerechtigkeit, die seinem Leben eine jähe Wende gab; die Scham, die dazu führte, dass er Frau und Kinder für einige Wochen verließ, um sie bei seiner Rückkehr nicht mehr vorzufinden. Erinnerungen – was sie weckt, wem sie gehören, wie man sie aus dem Leben streicht - sind ein zentrales Thema dieses Romans, der aus Sicht der verschiedenen Familienmitglieder die tragische Geschichte der Familie Sai und ihrer Vorfahren rekonstruiert.
Der älteste Sohn Olu, der als Arzt in de USA erfolgreich in die Fußstapfen seines Vaters tritt, der In-Künstler Kehinde und seine schöne, begabte, in einen Sexskandal verwickelte Zwillingsschwester Taiwo sowie die an Bulimie leidende Nachzüglerin Sadie – Taiye Selasi lässt Charaktere lebendig werden, die afrikanische Wurzeln haben, aber Erfahrungen, die sie mit vielen anderen teilen. Sie sind Afropoliten – wie sie sie Selasi mit Mitte zwanzig auf der Suche nach ihrer eigenen Identität in ihrem Essay „Bye Bye Babar“ beschrieben hat: die Generation der Kinder der vielen hochqualifizierten Afrikaner, die seit den 1960 Jahren den Kontinent verließen, „um im Ausland Universitätsabschlüsse und ihr Glück zu suchen“. Sie sind über die ganze Welt verstreut und während ihre Eltern sichere Berufe wie Arzt oder Ingenieur wählten, wagen „wir uns in Felder wie Medien, Politik, Musik, Risikokapital oder Design vor“. Zwischen die Welten geboren müssen sie sich flexibel eine Identität erschaffen, die sich auf keinen simplen Begriff von Zuhause stützen kann: „Sie fühlen sich nicht einem bestimmten geographischen Punkt zugehörig, sondern sind an vielen Orten zu Hause“.
So wie die Autorin, der Stereotypen suspekt sind: „Alles, was man über eine Nation sagen kann, lässt sich leicht auch auf jede andere übertragen. Ich interessiere mich für Menschlichkeit, für menschliches Verhalten, was überall auf der Welt bemerkenswert ähnlich ist.“ Die Jüngeren Sais sind vier Afropoliten, aber nicht beispielhaft. Darauf besteht Selasi: „Ihre Geschichte verlangte nach Literatur, nicht nach einem Aufsatz. Es sollte kein einzelnes Argument vorgebracht werden. Sie sind sehr spezifische menschliche Charaktere – sehr schön, sehr mutig, sehr gebrochen – und meine Intention war von dem Moment an, an dem sie mysteriös in meinem Herz, in meinen Gedanken erschienen, ihrer Menschlichkeit gerecht zu werden.“
Auf Fotos ist Taiye Selasi gestylt wie ein Top-Model. Die Bilder suggerieren Urbanität, Luxus und Weltläufigkeit der Weitgereisten, die in London geboren, in den USA aufgewachsen ist, an Eliteunis wie Yale und Oxford mit Auszeichnung studiert hat und heute in New York und Rom lebt. Humorvoll kokettiert sie mit ihrer Liebe zu Designerklamotten und einer gewissen Extravaganz. Gleichzeitig ist die Autorin und Fotografin, die ein Multimedia-Projekt zum Thema „Twentysomethings“ über Menschen in ihren Zwanzigern in ganz Afrika initiiert hat, selbstironisch und mitteilsam, selbst wenn sie Interview-Antworten in Thailand ins I-Phone tippen muss. Sie erzählt von Low-Budget-Reisen und von der Gruppe Freunde, die sie als ihre „nicht-biologische Familie“ versteht: „So verstreut auf der Welt sie ist, denke ich an Liebe, Sicherheit, Zugehörigkeit. Wenn das nicht Familie ist“. Auf dem deutschen Roman-Cover heißt es: „Tajye Selasi ist die neue internationale Stimme – jenseits von Afrika“. Verkaufsfördernd ist die Stilisierung der schillernden Autorenpersönlichkeit sicher, genauso wie ihre Beziehungen in der Literaturwelt. Aber ihr Erstling hat die Aufmerksamkeit verdient.
Rhythmus und Musikalität ihrer Sprache beeindrucken genauso wie die spannende Konstruktion, die den Leser das Bedrohliche lange vorausahnen lässt, bevor es erzählt wird. Besonders ist auch die Anschaulichkeit der fast filmischen Szenen – nicht nur weil Kwaku sich einen Kameramann vorstellt, der die wichtigsten Szenen seines Lebens festhält. Wie sie schreibe? Abgesehen vom Plot sei sehr viel Improvisation dabei: „Es ist wie ein Wunder: Wo die Geschichten herkommen, wieso sie so vollendet ankommen, wie die Sprache aus ihrer eigenen Logik, ihrer eigenen Musik heraus auftaucht.“ Oft fange es mit einem Rhythmus an, erzählte Selasi einmal in einem Interview. Wenn sie den spüre, lasse sie alles stehen und liegen und tippe ihre Gedanken in den Computer, um anschließend manchmal verwundert zu lesen, was ihre Charaktere zu sagen haben und wie sie es sagen.
Die schöne Taiwo erinnert sich mit Unbehagen an das Aufwachsen in der aufsteigenden Mittelschichtsfamilie mit Klavierunterricht in Massachusetts. Während ihr viel beschäftigter Vater seine Karriere als Chirurg auch auf dem Rücken der Mutter vorantrieb, die ihr Studium hinten an stellte, war da vor allem Anstrengung: „Es wurde etwas gebaut: eine erfolgreiche Familie.“ Das Zerbrechen des amerikanischen Traums, seine Folgen und die Abwesenheit des Vaters bleibt für die Kinder, die in London oder Boston ihren Weg suchen, ein zentrales Trauma. Mit großer Beobachtungsgabe und psychologischer Einfühlsamkeit zeichnet die Autorin das Verhältnis der Geschwister, geprägt von Liebe, Konkurrenz und Schuld.
Die Familie, an deren Auflösung nicht allein der Vater schuld ist, bleibt ein zentraler Bezugspunkt für Geschwister wie Mutter, auch wenn sie sich von einander entfernt haben. „Wir sind keine Familie“ trauert die erwachsene Sadie, während Olu für sich und seine asiatische Frau „will, dass wir etwas Besseres sind als eine Familie.“ Weggehen statt zu reden, bringt immer wieder Leid über die Sais: „Ich kenne keinen einzigen Roman über eine Familie, die nicht mit Kommunikationsproblemen kämpft“, erklärt Selasi. Die gemeinsame Reise zur Beerdigung in Ghana ist Anlass, sich offenen Wunden zu stellen, das Schweigen zu brechen und Ungesagtes endlich zu klären. Für die Charaktere in Selasis Roman – und sie selbst – sei Familie ein Ersatz: „Wofür? Für ein Gefühl von Zugehörigkeit, von Ort, von persönlicher Geschichte, die auf gewisse Weise auch die nationale Erzählung einbezieht. Familie oder das „Zuhause“, für das sie im weiteren Sinne steht, ist ein Ersatz.“
Charaktere und Handlung des Romans erinnern entfernt an Selasis eigenes Leben. Ihre halb schottische, halb nigerianische Mutter, die ihre beiden zu früh geborenen Zwillingstöchter weitgehend allein aufzog, ist Ärztin und eine bekannte Menschenrechtlerin in Ghana. Der Vater, ein ghanaischer Arzt und anerkannter Poet, verließ die Familie früh. Mit acht Jahren kam Selasi nach Brookline, Massachusetts, wo sie aufwuchs. Sie studierte in Yale Amerikastudien und Internationale Beziehungen in Oxford. Dort lernte sie Toni Morrison über deren Nichte kennen und die amerikanische Nobelpreisträgerin setzte ihr eine Deadline für das Schreiben einer Kurzgeschichte: „The Sex Lives of African Girls“ erschien 2011 in der Literaturzeitschrift „Granta“ und danach in einer Sammlung der besten amerikanischen Kurzgeschichten. Nachdem ihr Romananfang verkauft war, litt Taiye monatelange unter einer Schreibblockade, die sich erst durch den Umzug von New York nach Rom heilen ließ. Dort hilft sie ihrer Kreativität durch Spaziergänge auf die Sprünge: „Das einfache Ritual, Kunst zu betrachten, in Schönheit zu schwelgen, eröffnet immer etwas. Genauso der römische Himmel, die Präsenz von Fremden, das Rauschen des Windes in den Blättern.“ Musik sei auch hilfreich und zur Not „hat Italien sehr gute Weine“, lächelt Selasi übers I-Phone. Derzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Roman mit dem Arbeitstitel „Generationen“, der in Rom spielen wird: „Es ist immer ein Vergnügen, von einer Gruppe neuer Charaktere Besuch zu bekommen. Jetzt bin ich zurück an dem Punkt, der so viel verspricht und so viel fordert: am Anfang.“